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Gedanken zu den (drohenden) Auswahlverfahren/Triage bei Intensivbehandlungen in Deutschland während der Covid-19-Pandemie

30.06.2020
Das Bild zeigt mehrere Piktogramme mit verschiedenen medizinischen Symbolen.

Im Juni 2020 können wir in Deutschland sagen, „Wir haben die Kurve flach gehalten!“. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern haben wir es gemeinsam geschafft (Politik und Bürger*innen), dieses unbekannte Virus an einer starken Ausbreitung zu hindern.

Ob die krassen Maßnahmen dafür gerechtfertigt waren oder ob man sagen kann, die Politik habe überreagiert, kann man erst in frühestens einem Jahr sagen. Wir wollen uns zunächst darüber freuen, dass nicht mehr Menschen an dem Virus gestorben sind, als es aktuell der Fall ist.

„Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich“. In dieser Überzeugung leben die Bürger*innen in unserem Land. 

Man kann nun fragen, ob vor dem Hintergrund der momentanen Zahlen der Diskurs über die Triage noch nötig oder sinnvoll sei. Jetzt im Juni 2020 nimmt die Kurve der Neuinfektionen zwar wieder leicht zu, allerdings in gut eingrenzbaren Gebieten. Krankenhäuser in Deutschland haben bis dato zu keiner Zeit eine Überlastung erlebt, die zu triage-ähnlichen Entscheidungen gezwungen hat. 

Da durch die harten Maßnahmen des Lockdown und die Kontaktbeschränkungen für die Bürger*innen das sogenannte Präventionsparadox entstanden ist „Man sieht die Schäden nicht, die ausgeblieben sind…“, ist die Frage verständlich. 

Aber: Weder wissen wir, wie es weiter geht mit dieser Pandemie, noch sollten wir diesen Diskurs der gerade begonnen hat, abbrechen: Er wird uns für andere Situationen und kommende Pandemien eine Hilfe sein!

Es bleibt weiter zu hoffen, dass die Anwendung einer Triage in unserem Land nicht notwendig sein wird und es ist zutiefst bedauerlich, dass in anderen Ländern wie z.B. Italien vor einigen Monaten eine Situation eingetreten ist, in der sie angewendet werden musste.

Die Triage ist ein Auswahlverfahren, das in Krisensituationen wie Krieg und Seuchen, oder auch bei Unfällen und Naturkatastrophen zum Tragen kommen kann. Ärzt*innen sind dann gezwungen, medizinische Behandlung an ausgewählte Personen zu vergeben und andere sterben zu lassen. Das ist genau das, was hier in Deutschland während der Corona-Pandemie in jedem Fall vermieden werden sollte und wofür die vielen Maßnahmen des Lockdown durchgeführt wurden.

Über die Kriterien, die bei einer Triage genutzt werden, wird derzeit gestritten. 

Diesen Text hat die Leiterin des KSL Düsseldorf Anfang Juni verfasst, um einen Diskurs zu eröffnen. Mit diesem Text soll eine Anregung gegeben werden, darüber ins Gespräch zu kommen, Meinungen auszutauschen. 

Vor allem für Menschen mit Behinderung ist dieses Gleichheitsempfinden jedoch häufig gestört. Zu oft müssen sie noch für ihre Rechte kämpfen, die ihnen laut UN Behindertenrechtskonvention und den daraus folgenden Landesgesetzen zustehen. Zu häufig erleben sie die Gesetze wie ein Lippenbekenntnis der Gesellschaft, zu dessen Verwirklichung die Hürden zu hoch sind.

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ So sagt es der Artikel 3 Absatz 3 unseres Grundgesetzes.

Vor dem Gesetz sind wir alle gleich, wir streben als Gesellschaft nach größtmöglicher Gerechtigkeit.

Das Leben selbst – und auch der Tod mit dem vorrangehenden Sterbeprozess kann jedoch nie als „gerecht“ empfunden werden. 

Sterben ist ein Vorgang, der zutiefst persönlich ist, für jeden Menschen einzigartig und sehr verschieden. Man kann den Tod des einen Menschen nicht mit dem eines anderen vergleichen. Aber natürlich wird es im Letzten immer als ungerecht erlebt, wenn ein Mensch stirbt.

Man könnte allerdings auch sagen:

Leben und Tod passen eben nicht in diese Kategorie der Gerechtigkeit, daher eignen sie sich auch nur bedingt für eine Einordnung in Kategorien des Rechts.

Der Diskurs könnte dazu führen, dass wir auf der einen Seite unser Verhältnis zu Krankheit und Tod bewusst überdenken, unsere Haltung dazu diskutieren, mit anderen austauschen, immer wieder überprüfen. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, es ist jedoch fundamental wichtig: 

Diesen Diskurs dürfen wir nicht den Fachleuten alleine überlassen, denn für unser eigenes Leben sind wir – jede/r einzelne – die Expert*innen! 

Die Auseinandersetzung mit diesen grundlegenden Themen hilft uns, uns aufzuklären über Hintergründe und Fakten. Auseinandersetzungen dieser Art machen uns zu mündigen Bürger*innen und somit zu wachen Mitgestalter*innen in einer Demokratie, die ohne diese nicht funktionieren kann.

„Die Triageempfehlungen gelten als eine Entscheidungsunterstützung für das medizinische Personal.“ (DIVI 23.04.2020)

Das Personal im Gesundheitswesen braucht meines Erachtens die Unterstützung der Bevölkerung in diesem Prozess. Die Unterstützung dadurch, dass wir uns mit dem Thema auseinandersetzen und eine Meinung entwickeln. 

Denn die Entscheidung zu treffen, ob man einen Menschen weiter behandeln kann oder nicht, weil die Kapazität in den Krankenhäusern (bzw. auf den Intensivstationen) nicht ausreichet, ist eine der schwierigsten überhaupt.

Kein Mensch möchte vor solch einer Entscheidung stehen. Das Gesundheitspersonal braucht also sowohl Entscheidungsunterstützung aus der Wissenschaft und aus dem Rechtswesen als auch den Diskurs der Gesellschaft darüber, wie diese aussehen können. Damit stärken wir den Pflegenden und den Ärzten den Rücken, wenn sie in solch eine Situation kommen. 

Wie wichtig das ist, sieht man an den Berichten aus Italien über die Ärzte, die jetzt unter den Folgen dieser schwierigen Situation leiden. Immer schon ist bekannt, dass die Entscheider in diesen Situationen nach der Krise an posttraumatischen Störungen leiden (Wikipedia).

Der deutsche Ethikrat postete am 07.04.2020 zu dem Thema auf Twitter:

„In einer dramatischen Situation wie der #Triage kann es sein, dass die rechtlichen Vorgaben nicht ausreichen und durch ethisch-moralische Kriterien ergänzt werden müssen. Diese können komplementär aber auch im Widerspruch zueinander stehen, so Steffen Augsberg. #COVID19de“

Wie aber werden diese aufgestellt, bewertet und durchgeführt?

Und haben wir in Deutschland überhaupt rechtsrelevante Kriterien dafür?

Die obige Aussage des Ethikrates jedenfalls hat für viel Widerspruch gesorgt – zurecht!

Damit wird auch deutlich, dass wir als Gesellschaft dringend uns mit diesem Thema befassen müssen. Besonders aber auch im Hinblick auf die Triage Kriterien und das Thema Behinderung.

Auch die Weltgesundheitsorganisation warnt inzwischen vor einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie: Menschen mit Behinderungen befinden sich in doppeltem Maße in Lebensgefahr – einerseits werden sie als Angehörige einer Risikogruppe in hohem Maße durch das Virus selbst gefährdet, gleichzeitig droht ihnen, dass sie durch triage-ähnliche Entscheidungen einmal infiziert nicht ausreichend behandelt werden. (1)

Um einen menschenrechtlich fundierten Umgang zu gewährleisten, müssen die Gremien des Rechtsstaates eingeschaltet werden.

Die vielen Vorschläge und Einlassungen sowohl privater Institute, Hochschulen, Ärztevertreter*innen und/oder Journalist*innen sollten immer auf ihren Bezug zu den allgemeinen Menschenrechten geprüft werden.

Sie sind allgemeingültiges Recht, das bis in unsere konkrete bundesrepublikanische Gesetzgebung Geltung hat.

Die von der DIVI gemachten Vorschläge müssen daraufhin geprüft werden und vor allem die Handhabung der sog. Gebrechlichkeitsskala so klar definiert werden, dass deutlich wird, dass mit den Skalen keine Folgen einer wie auch immer gearteten Behinderung gemeint sein können.

Ein Mensch mit einer Muskelerkrankung, der in sich einem Rollstuhl fortbewegt, ist nicht per se gebrechlich, sondern bewegungseingeschränkt. Die Aufgabe der Medizin heut zu Tage ist es, ihm zu ermöglichen, so lange wie möglich fit und gesund zu bleiben.

Das medizinische Modell von Behinderung hat mit der UN BRK ausgedient - dadurch wird diese Unterscheidung ermöglicht aber auch nötig.

Ein Grund, warum die Triage für Menschen mit Behinderung so ein schwieriges Feld ist und so starke Emotionen hervorruft ist jedoch auch, dass die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung auch außerhalb der Pandemie unzureichend ist:

  • So lange man in der Klinik seine Assistenz nicht sicher bezahlt bekommt oder sie gar nicht erst mitbringen darf
  • So lange es nicht selbstverständlich ist, dass der Rettungswagen, der eine Rollstuhlfahrerin abholt, ihren Rollstuhl mit ins Krankenhaus nimmt
  • So lange Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten keine angemessene Hilfe zur Orientierung im Klinikalltag erhalten
  • So lange die Pfleger*innen keine Zeit haben, sich den besonderen Bedarfen behinderter Menschen zuzuwenden 
  • So lange eine Frau mit Kinderlähmung bei einem Krankenhausaufenthalt jeden zweiten Tag erklären muss, warum sie ihre Arme nicht bewegen kann …

… so lange kann man nicht erwarten, dass Menschen mit einer Behinderung viel Vertrauen in das medizinische System in einer Ausnahmesituation haben.

Dies macht deutlich, dass auch eine ruhig verlaufende Pandemie uns nicht aus der Verpflichtung entlässt, das Thema weiter zu behandeln:

Es ist nicht nur für das klinische Personal wichtig, dass wir diesen Diskurs führen, sondern auch für die Menschen mit Behinderung, die schon im Alltag ständig die Sorge haben müssen, im medizinischen Sektor nur unzureichende Behandlung zu bekommen.

Die sog. „Gebrechlichkeitsskala“, die im Umfeld des Triageverfahrens zur Anwendung kommt tut ihr Übriges dazu, dass Menschen mit Behinderung sich diskriminiert fühlen. 

Sie unterscheidet nicht ausreichend zwischen den Begriffen der Krankheit, der Behinderung und der Gebrechlichkeit. Hier muss viel genauer hingeschaut und präziser gesprochen werden.

Die Skala erinnert viele an Zeiten, die in Deutschland in das Desaster der Euthanasie führten: Diese rein utilitaristische Betrachtungsweise widerspricht der Menschenwürde.

Was also tun?

Der Gedankenfaden in diesem Text soll mit einem Vorschlag von Markus Tiedemann aus dem im Anhang angeführten Artikel enden.

Dieser ist nicht abschließend, sondern als Vorschlag von ihm und somit als Anregung zum Diskurs gedacht.

„Noch ist die endgültige Regelung der Triage nicht ausgehandelt. Im Folgenden möchte ich einen Vorschlag unterbreiten, der zugleich als Kompromiss zwischen den oben genannten Bezugsgrößen unserer normativen Orientierung verstanden werden kann: 

  1. Eine Ex-ante-Triage darf nach transparenten medizinischen Kriterien von der Bundesärztekammer oder aber von einzelnen Krankenhäusern beschlossen und durchgeführt werden. 
  2. Eine Ex-post-Triage bleibt verboten. Allerdings gilt dieser absolute Schutz nur für Patienten, die noch eine realistische Heilungschance besitzen. Komatöse Patienten, bei denen der Respirator nur sterbebegleitend fungiert, dürfen bei extremem Bedarf von der Maschine getrennt werden. 

Als Resümee bleibt also die Forderung, bei extremem Mangel an Geräten komatöse Patienten, bei denen die Beatmung sterbebegleitend eingesetzt wird, vom Respirator zu trennen. Auf diese Weise entstünde zumindest eine geringe Entlastung für Medizinerinnen und Mediziner. Derzeit gilt nur, dass die medizinischen Entscheider im Rahmen des übergesetzlichen Notstandes mit juristischer Milde rechnen können. Selbst für Außenstehende ohne konkreten Entscheidungsdruck muss diese Lösung unbefriedigend bleiben.“ (2)

Wenn also die Ex-ante Triage gesetzlich erlaubt ist, dann müssen die Kriterien darin vor allem den allgemeinen Menschenrechten genügen:

„Der Staat hat eine Schutzpflicht gegenüber behinderten Menschen wie gegenüber anderen Risikogruppen in Bezug auf Diskriminierung und Exklusion. Das gilt ganz besonders, wenn es um den Schutz des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 1 GG) geht.(3) Die UN BRK fordert zu einem Paradigmenwechsel vom medizinischen Modell zu einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung auf. Der Staat muss dafür sorgen, dass dieser Paradigmenwechsel auch in der Katastrophenmedizin vollzogen wird.“ BODYS Stellungnahme vom 14.04.2020

Dieses Statement macht deutlich, dass da, wo wir die Allgemeinen Menschenrechte als Maßstab an unser Handeln anlegen, wir immer weiter kommen auf dem Weg zu einem freien gerechten und brüderlich/schwesterlichen Staat. 

Als Verfasserin dieser Zeilen und als Leiterin der KSL Düsseldorf wünsche ich mir zu den einzelnen Themenblöcken die im Text angerissen sind Einlassungen meiner Kolleg*innen.

Ich erhoffe mir einen Diskurs, der uns diesem Thema näher bringt und uns die Tragweite der UN Behindertenrechtskonvention auch zu diesem Thema vor Augen führt.

In der Gemeinschaft der KSL haben wir nun beschlossen, auf der Webseite ksl-nrw.de diesen Diskurs anzulegen – Texte zu sammeln – Interviews zu führen und diese zu veröffentlichen und  Formate zu suchen, die in Zeiten von Corona eine Öffentlichkeit für dieses Thema schaffen.

Iris Colsman, Düsseldorf im Frühsommer 2020


(1) World Health Organization (2020), Disability considerations during the COVID-19 outbreak, WHO/2019- nCoV/Disability/2020.1, online: https://www.who.int/health-topics/disability#tab=tab_1
Aus: BODYS-Stellungnahme zur gegenwärtigen Triage-Debatte, in der behinderte Menschen hintenangestellt werden sollen. April 2020

(2) Leseempfehlung: „Wie ethisch ist die Triade?“ von Markus Tiedemann in der Frankfurter Rundschau vom 21.04.2020. 
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/corona-pandemie-triage-ethik-entscheidung-leben-tod-13668836.html

(3) BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 70, online: http://www.bverfg.de/e/ls20160726_1bvl000815.html. Aus der Stellungnahme von BODYS vom 14.04.2020


Weiterführende – zum Thema passende – Links und Texte:

Zum Thema Gebrechlichkeitsskala:
https://www.divi.de/images/Dokumente/200331_DGG_Plakat_A2_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf
(Beispiel daraus: „Bedenken Sie, dass die Klinische Frailty Skala nur bei älteren Personen (≥65 Jahren) umfangreich validiert ist. Die Skala ist nicht bei Personen mit stabilen dauerhaften Be hinderungen, wie z. B. frühkindlichen Hirnschädigungen, validiert, da deren Prognose stark von derer älterer Menschen mit progredienten Behinderungen differieren könnte.“

https://abilitywatch.de/menschistmensch/

https://www.dggeriatrie.de/images/Bilder/PosterDownload/200331_DGG_Plakat_A2_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf

Zum Thema allgemein sind viele Links und Einlassungen zu finden auf:
https://www.ksl-nrw.de/de/node/2955