Landessozialgericht NRW, Urteil v. 15.12.2022 – Az. L 9 SO 240/21
Vor dem Wechsel der Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe vom Sozialhilfe- zum Eingliederungshilfeträger war in Bescheiden häufiger der Hinweis zu lesen, dass Menschen mit Behinderung, die einen Anspruch auf Eingliederungs-hilfeleistungen geltend gemacht haben, gegenüber anderen sozialhilfeberechtigten Menschen damit nicht bessergestellt werden dürften. Dies betraf vor allem Anträge, die sich auf nicht so übliche Teilhabebedarfe wie z.B. Urlaubsassistenz bezogen. Zwischenzeitlich ist dieser Vergleichsmaßstab in den Bescheiden deutlich seltener zu finden. Allerdings ist dieses Verständnis bei den Eingliederungshilfeträgern (noch) nicht gänzlich verschwunden.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat im Rahmen einer Streitigkeit zur Ausgestaltung und Befristung eines Persönlichen Budgets im Urteil sein Verständnis und die Vergleichskriterien zur Anerkennung eines Teilhabebedarfs im Rahmen der Eingliederungshilfe deutlich gemacht.
Nach der Auffassung des Gerichts gilt für die „[…] abschließende Ermittlung des Eingliederungshilfebedarfs ein individueller und personenzentrierter Maßstab: In welchem Maß und durch welche Aktivitäten ein behinderter Mensch am Leben in der Gemeinschaft teilnimmt, ist abhängig von seinen individuellen Bedürfnissen unter Berücksichtigung seiner Wünsche. Ziel der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist es, dem Kläger die in seiner Altersgruppe üblichen gesellschaftlichen Kontakte mit Menschen zu ermöglichen und dabei nachvollziehbare soziale Teilhabebedürfnisse zu erfüllen, soweit diese nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen hinausgehen.“ (BSG, Rz. 32).
Aus dem Urteil des BSG folgt, dass der Teilhabebedarf zum einen grundsätzlich individuell und personenzentriert ermittelt werden muss. Dabei ist nicht nur zu berücksichtigen, welche Leistungen beantragt wurden oder was die antragstellende Person als Wünsche und Bedarfe benennt. Vielmehr gilt hier der Amtsermittlungsgrundsatz, wonach der Eingliederungshilfeträger von seiner Seite aus alle für die Bedarfsermittlung relevanten Erkenntnismöglichkeiten ausschöpfen muss.
Zum anderen ist bei der Anerkennung des ermittelten sozialen Teilhabedarfs, der erwachsene gleichaltrigen Mensch ohne Behinderung, der keine Sozialhilfe in Anspruch nimmt, und dessen Bedürfnis an üblichen gesellschaftlichen Kontakten der Vergleichsmaßstab.
Bei der Entscheidung des BSG lag der Fokus auf erwachsenen Menschen mit Behinderung sowie deren Wünsche und Bedarfe im Vergleich zu gleichaltrigen Menschen ohne Behinderung.
Das Landessozialgericht NRW (LSG NRW) hat in seiner Entscheidung den Vergleichsmaßstab bei Kindern und Jugendlichen in gleicher Weise beurteilt. In der Entscheidung stand die Kostenerstattung für die Beförderung einer Schülerin mit Behinderung zur Schule in Form von Taxifahrten im Streit. Hiernach ist bei der Übernahme von Fahrtkosten für die Beförderung zur Schule durch die Eingliederungshilfe darauf abzustellen, wie gleichaltrige Kinder oder Jugendliche ohne Behinderung ihren Schulweg üblicherweise bewältigen. Wenngleich die Beförderungspflicht zur Schule grundsätzlich bei den Eltern liegt, sieht das Gericht – zumindest ab der weiterführenden Schule – es als üblich an, dass die Schüler*innen ihren Schulweg selbständig und unabhängig von den Eltern absolvieren (LSG Rz. 37). Es würde damit zu einer Benachteiligung für die betroffene Schülerin mit Behinderung führen, wenn diese weiterhin von der Beförderung durch die Eltern abhängig wäre, weil sie behinderungsbedingt den Schulweg nicht selbstständig bewältigen kann. Die dadurch entstehenden behinderungsbedingten Kosten (z.B. Taxikosten) sind von der Eingliederungshilfe zu tragen.
Das Gericht schließt in seiner Entscheidung nicht aus, dass auch bereits Grundschulkindern den Schulweg selbständig bewältigen können. Entsprechend müssten auch hier Leistungen der Eingliederungshilfe zur von den Eltern unabhängigen Bewältigung des Schulweges bewilligt werden.
Im Rahmen des Gesamtplanverfahrens ist bereits bei der Bedarfsermittlung darauf zu achten (z.B. als begleitende Vertrauensperson), dass der Bedarf individuell und personenzentriert ermittelt wird. Im Nachgang sollten Bescheide, insbesondere Ablehnungsbescheide immer daraufhin überprüft werden, welcher Vergleichsmaßstab bei der Anerkennung der ermittelten Teilhabebedarfe angelegt wurde. Ggf. ist hiergegen Widerspruch zu erheben.
Beispiel 1: Heute ist es durchaus üblich, dass Menschen – nahezu aller Altersgruppen und ökonomischer Ressourcen - eine Kreuzfahrt machen. Daher ist auch der Wunsch eines Menschen mit Behinderung, seinen Urlaub in Form einer Kreuzfahrt zu verbringen, als inzwischen übliches gesellschaftliches Teilhabebedürfnis anzusehen. Die über die eigentlichen Kosten hinausreichenden behinderungsbedingten Mehrkosten, z.B. für eine Assistenz sind damit im vorliegenden Beispiel im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen.
Beispiel 2: Ein 14-jähriger Junge aus dem Autismus-Spektrum soll in Vorbereitung eines Realschulabschlusses und der damit verbundenen Teilnahme am Unterricht vor Ort dabei unterstützt werden, soziale Kontakte zu knüpfen und Alltagskompetenzen zu erwerben (z.B. selbständig einkaufen gehen). Er selbst äußert den Wunsch, dass die Assistenz männlich sein sollte. Hier kann ein Antrag auf Assistenz nicht mit dem Hinweis zurückgewissen werden, dass die Eltern diese Aufgabe übernehmen müssen. Jugendliche ohne Behinderung in vergleichbarem Alter bewegen sich in ihrem Alltag und in ihren sozialen Beziehungen zunehmend unabhängiger von den Eltern. Daher sind die Kosten für eine Assistenz von der Eingliederungshilfe zu übernehmen. Dem Wunsch nach einem männlichen Assistenten ist ebenfalls zu entsprechen.
Ulrike Häcker, KSL Detmold, u.haecker@ksl-owl.de