Das Landessozialgericht NRW hat einer Klägerin die Kosten für ambulante Autismus‑Therapie zugesprochen, auch wenn sie in einer Einrichtung lebt (Landessozialgericht NRW, Urteil vom 25.05.2023, L 9 SO 424/21).
Die Klägerin mit umfassendem Unterstützungsbedarf lebt in einer stationären Wohneinrichtung und besucht den Förderbereich einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Sie hatte langjährig ambulante Autismus‑Therapie genutzt. Diese war zunächst vom (damals für Eingliederungshilfeleistungen noch zuständigen) Sozialhilfeträger finanziert worden. Dann, nachdem dieser eine weitere Finanzierung abgelehnt hatte, wurde die Therapie durch Entlastungsleistungen der Klägerin nach dem SGB XI finanziert sowie ergänzend durch private Mittel ihrer Eltern.
Der Sozialhilfeträger sieht den Bedarf der Klägerin als bereits gedeckt an, und zwar durch den Träger der stationären Wohneinrichtung. Der Klägerin seien Eingliederungshilfeleistungen für stationäres Wohnen gemäß dem „Leistungstyp 14“ bewilligt worden (LT 14: „Wohnangebote für Erwachsene mit der fachärztlichen Diagnose Autismus“). Weitere Ansprüche bestünden nicht.
Die Klägerin verweist darauf, der Träger der Wohneinrichtung biete eine Autismus‑Therapie nicht an, insbesondere bestehe keine spezielle Gruppe für Menschen mit Autismus. Ein vorliegendes psychiatrisches Gutachten hält Autismus‑Therapie für weiterhin erforderlich. Das Sozialgericht hatte in erster Instanz ausgeführt, ein Wechsel in eine Spezialgruppe sei von den Eltern der Klägerin aus nachvollziehbaren Gründen abgelehnt worden, da die Klägerin dort noch weniger Betreuung erhalten hätte.
Das Landessozialgericht hat entschieden: Der Sozialhilfeträger hat der Klägerin die Kosten der selbst beschafften ambulanten Autismus‑Therapie zu erstatten.
Insbesondere habe die Klägerin auch als Bewohnerin einer stationären Einrichtung im konkreten Fall einen Anspruch auf Autismus‑Therapie als ambulante Leistung der Eingliederungshilfe. Das gelte, obwohl die Einrichtung vertraglich verpflichtet gewesen sei, Autismustherapie zu erbringen (nach „Leistungstyp 14“).
Die stationäre Einrichtung erbringe nämlich praktisch keine Autismus‑Therapie – allenfalls in minimalem Umfang. Das sei im konkreten Falle ein „Systemversagen“. Deswegen hätte der Sozialhilfeträger zusätzlich zu den Leistungen in der stationären Wohnform eine ambulante Autismus‑Therapie finanzieren müssen. Da er diese Finanzierung rechtswidrig abgelehnt habe, hätten die Klägerin bzw. deren Eltern die Therapie selbst beschaffen und vorfinanzieren dürfen. Der Sozialhilfeträger sei erstattungspflichtig.
Wenn bestimmte bedarfsdeckende Leistungen durch den Leistungsanbieter (hier: der stationären Wohnform) gar nicht erbracht würden, habe der Bewohner einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger, diese Bedarfe anderweitig decken zu lassen. Der Sozialhilfeträger habe die notwendigen Leistungen zu finanzieren – zusätzlich zu den Kosten der stationären Wohnform. Finanziere der Sozialhilfeträger diese zusätzlichen Leistungen rechtswidrig nicht, dann könne sich der Bewohner die bedarfsdeckenden Leistungen selbst beschaffen, und der Sozialhilfeträger müsse ihm die dafür anfallenden Kosten erstatten.
Unter Hinweis auf den Wechsel der Eingliederungshilfe vom SGB XII in das SGB IX hat das LSG die Revision nicht zugelassen.
Das Urteil ist noch immer wert, erwähnt zu werden, trotz seines letzten Absatzes. Das Landessozialgericht lässt die Revision nicht zu.
Sinngemäße Begründung: Die hier noch maßgeblichen Rechtsnormen zur Eingliederungshilfe nach dem SGB XII haben sich durch den Wechsel der Eingliederungshilfe ins SGB IX [durch das Bundesteilhabegesetz] erledigt. Für zukünftige Verfahren haben sie keine Bedeutung mehr. Also braucht es dazu auch keine Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts mehr dazu.
Für die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII ist das richtig. Diese Vorschriften gibt es schlicht nicht mehr. Sozialhilfeträger sind für die Entscheidung über Eingliederungshilfe nicht mehr zuständig.
Trotzdem enthält das Urteil mindestens eine wesentliche Aussage, die sich auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX übertragen lässt, nämlich:
„Jedenfalls in Fällen eines Systemversagens ist es zulässig, auch bei einer stationären Unterbringung den ungedeckten Bedarf durch ambulante Leistungen zu decken.“
Der Begriff des Systemversagens sei eng auszulegen. Deshalb sei nicht bereits jeder Personalmangel oder jede fehlende Qualifikation von Personal ein Systemversagen.
Der spannende Punkt ist: Auch Nutzer*innen von (mittlerweile so bezeichneten) „besonderen Wohnformen“ können unter bestimmten Voraussetzungen zusätzliche ambulante Leistungen der Eingliederungshilfe beanspruchen.
Regelmäßig werden solche Anträge von den Trägern der Eingliederungshilfe abgelehnt, weil der Träger der besonderen Wohnform diese Leistungen ja schon erbringe - oder zumindest laut Vertrag erbringen müss(t)e. Mehr oder weniger direkt fällt außerdem meist das böse Wort der „Doppelfinanzierung“.
Nach diesem Urteil lohnt es sich in jedem Einzelfall genauer zu prüfen, ob gegen die Ablehnung wegen angeblicher Doppelfinanzierung Widerspruch eingelegt werden sollte.
Alternativ könnten ggf. zivilrechtliche Ansprüche gegen den Träger besonderen Wohnform bestehen.