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En Rollstuhl steht am Fuß einer Rolltreppe. auf einem Verbotsschid daneben steht in einem roten Kreis Wir müpssen leider draußen bleiben.

Ein Einwohner einer Kommune, der einen Rollstuhl nutzt, hat keinen Anspruch auf Maßnahmen der Kommune, die ihm den Zugang zum Verwaltungsgebäude im eigenen Stadtteil ermöglichen, wenn die Kommune auf andere Weise sicherstellt, dass der Einwohner alle kommunalen Dienstleistungen nutzen kann (z.B. durch Hausbesuche oder in anderen Verwaltungsgebäuden). So lautet ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart. "Einwohnerinnen und Einwohner im Rollstuhl darf man also vor dem Verwaltungsgebäude stehenlassen? Wie kann das sein?", fragt sich Manuel Salomon, Rechtsexperte beim KSL Arnsberg.

Die Ausgangslage

Der Kläger ist Einwohner der beklagten Kommune und nutzt einen Rollstuhl. Er verlangt von der Kommune geeignete Maßnahmen, damit auch er als Rollstuhlfahrer das Verwaltungsgebäude der im Stadtteil gelegenen Bezirksstelle aufsuchen kann, um dort kommunale Dienstleistungen zu nutzen. Konkret hat der Kläger eine „einfache Rampe“ vorgeschlagen. Damit könne ein barrierefreier Zugang geschaffen werden (Im Urteil des VG Stuttgart ist einmal von „zwei Treppen“, ein anderes Mal von „vier [Treppen-]Stufen“ die Rede).

Die Kommune lehnte den Anspruch aus rechtlichen wie tatsächlichen Gründen ab. Sie brachte insbesondere vor, tatsächlich erbringe die Kommune alle kommunalen Dienstleistungen auch gegenüber dem Kläger. Ein Schwarzes Brett werde aus dem Eingangsbereich des Gebäudes verlegt, so dass der Kläger es vor dem Gebäude einsehen könne. Die angespannte Haushaltslage stehe einem (weiteren) Umbau entgegen.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart

Das Verwaltungsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch verneint (Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.08.2021 (Az. 7 K 476/20).

Zwar werde der Kläger aufgrund seiner Behinderung ungleich behandelt, soweit er das Verwaltungsgebäude in seinem Stadtteil faktisch nicht aufsuchen könne.

Diese ungleiche Behandlung werde allerdings durch die beklagte Kommune im konkreten Falle angemessen ausgeglichen – wie es das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich für möglich halte. Deswegen könne keine Diskriminierung festgestellt werden. Ansprüche auf weitergehende Maßnahmen habe der Kläger nicht.

Es sei -auch gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts- nicht abstrakt definierbar, wann ein Ausschluss von Entfaltungs- oder Betätigungsmaßnahmen durch Fördermaßnahmen hinreichend ausgeglichen sei, um nicht benachteiligend zu wirken. Dafür seien jeweils Wertungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und prognostische Einschätzungen zu berücksichtigen.

Die Wertungen ergäben sich maßgeblich aus der UN‑Behindertenrechtskonvention (UN‑RK) und den Grundrechten des Klägers.

Entscheidend sei hier, dass der Kläger alle kommunalen Dienstleistungen in zumutbarer Art und Weise nutzen könne. Zwar müsse er dafür zum Beispiel das Rathaus aufsuchen (für den Kläger innerhalb von zwanzig Minuten erreichbar, gegenüber elf Minuten bis zur Zweigstelle), sich für bestimmte Dienstleistungen vorher telefonisch anmelden (Einsichtnahme in Bebauungspläne), oder einzelne Dienstleistungen würden von der Beklagten durch Hausbesuch beim Kläger erbracht (Vorbesprechung der klägerischen Eheschließung).

Diese Erschwernisse seien dem Kläger jedoch im Ergebnis zumutbar. Auf welche Art und Weise die Kommune die vorliegende Ungleichbehandlung ausgleicht, liege im Ermessen der Kommune - betreffe die Frage doch den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung.

Aus den gleichen Gründen bestehe der geltend gemachte Anspruch auch weder nach Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz noch nach Paragraf 6 des Landesbehindertengleichstellungsgesetzes Baden‑Württemberg (vergleichbar  Paragraf 2 Behindertengleichstellungsgesetz NRW).

An das Bundesbehindertengleichstellungsetz seien Kommunen nicht gebunden. Eine unmittelbare Verpflichtung der Kommune ergebe sich auch nicht aus Artikel 1 Absatz 2 UN-BRK, Art.ikel 9 Abs. 1 UN-BRK oder Artikel 19 Buchstabe c) UN-BRK.

Anmerkung des KSL Arnsberg

Liest man nur die Leitsätze des Urteils, dann erwartet man einen vollständigen Sieg des Klägers. Endlich mal wieder ein Urteil, was man zugunsten von Menschen mit Behinderungen in allen möglichen Zusammenhängen als positives Beispiel anführen kann!

Und die Leitsätze kann man als positives Beispiel anführen.

Dann aber: „Die Klage wird abgewiesen.“

Einwohnerinnen und Einwohner im Rollstuhl darf man also vor dem Verwaltungsgebäude stehenlassen? Wie kann das sein?

Die sich einstellende Ernüchterung wird auch nicht dadurch gemindert, dass es um ein Urteil aus Baden-Württemberg geht. Das KSL Arnsberg hat es im Wesentlichen mit dem Landesrecht von Nordrhein-Westfalen zu tun. Dieses Recht ist aber - auch bei unterschiedlichem Wortlaut - durchaus vergleichbar, soweit es um diejenigen Regelungen geht, auf die das Verwaltungsgericht Stuttgart entscheidend abstellt.

Das Verwaltungsgericht scheint in dem Zugang zum Verwaltungsgebäude und in der Nutzung der Verwaltungsdienstleistungen im Wesentlichen ein Mittel zu sehen, um bestimmte Teilhabebedürfnisse befriedigen zu können (Eheschließung, Beteiligung am Verfahren zur Aufstellung eines Bebauungsplans, Tätigkeiten, die einen gültigen Personalausweis oder Führerschein erfordern usw.).

Diese Teilhabebedürfnisse kann der Kläger sich erfüllen, und zwar eventuell in gleicher Weise wie auch die Einwohnerinnen und Einwohner ohne Behinderungen (so ist zumindest zu hoffen. Für die Eheschließung erwähnt das Gericht ein barrierefreies Gebäude als Alternative).

Die gleichberechtigte, vollumfängliche Teilhabe fängt aber schon vorher an. Bereits die Inanspruchnahme der Verwaltungsdienstleistung ist Teilhabe. Bereits der Zugang zum Verwaltungsgebäude ist Teilhabe. Noch weitergehend: Bereits die freie Entscheidung, ob man das Verwaltungsgebäude aufsuchen will oder nicht, ist Teilhabe.

Schon diese Teilhabe ist für Menschen mit Behinderungen grundsätzlich in gleicher Art und Weise zu gewährleisten wie für Menschen ohne Behinderungen. Und bereits insoweit sind die Maßstäbe der UN-BRK anzuwenden.

Kompensationen können allenfalls übergangsweise hingenommen werden, um Benachteiligungen im Ergebnis zu vermeiden. Benachteiligungen im Verfahren können durch Kompensationen wie den vorliegenden gar nicht vermieden werden - bei allem anzuerkennenden Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Verwaltung. Gerade die Kompensation beeinträchtigt ja die freie Entscheidungsmöglichkeit.

Die Vorgaben der UN-BRK sind auch bei der Ausübung des Ermessens im Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung zu beachten.

Und da ist es vollkommen unverständlich, weshalb die Verwaltung eine Rampe verweigern können soll - mit dem schlichten Hinweis auf den Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung und die angespannte Haushaltslage.

Je nach den örtlichen Gegebenheiten ist eine Rampe vielleicht sogar billiger als beispielsweise die Arbeitszeit für die als Kompensation notwendigen Hausbesuche und für die veränderten Abläufe. Vor allem dann, wenn mal jemand kommt, die oder den man -anders als den hiesigen Kläger- mangels Auto nicht auf das Rathaus verweisen kann.

Das sollte mal jemand rechnen!

Und dann konnte der Kläger aus prozessrechtlichen Gründen nicht „Barrierefreiheit für alle“ einklagen. Die für die Kommune verbindlichen Ziele der UN-BRK sehen das aber so vor!

Foto: geralt/pixabay